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Psychosoziale Effekte der Nuklearkatastrophe in Fukushima

7.3.2021

Am 27. Februar 2021 fand ein Symposium der IPPNW (Ärzte gegen Atomgefahren bzw. International Physicians for the Prevention of Nuclear War) statt, das sich anlässlich des nahenden 10. Jahrestags der Nuklearkatastrophe von Fukushima widmete, dem zweiten globalen Supergau in einem Atomkraftwerk.
Der Vortrag der Psychiatrin Dr. Med. Angelika Glaußen widmete sich dabei einem Themenkomplex, der oft nicht gesehen wird: den psychosozialen Auswirkungen der Katastrophe. Im Zusammenhang mit Kernenergieunfällen steht heute meist die Strahlenbelastung (und ihre Auswirkungen) im Zentrum der Aufmerksamkeit, nicht jedoch, welche Auswirkungen sie auf die geistige Gesundheit und das soziale Leben der Betroffenen hat.

Dr. Claußen widmete sich am Anfang der provokanten Frage, ob eine nukleare Katastrophe überhaupt zu gesundheitlichen Konsequenzen in der Bevölkerung führen kann. Schließlich bezeichneten sowohl die IAEA als auch gewichtige politische Stimmen die Strahlenbelastungen von Fukushima als „vernachlässigbar“. Die Psychiaterin widersprach diesen Aussagen vehement und zog zunächst den Vergleich zu einem Verkehrsunfall – ganz klar eine kleinere Katastrophe als ein Supergau wie in Fukushima.
Bei Verkehrsunfällen gibt es mittlerweile so viele Daten und Fallberichte, dass niemand mehr die Traumatisierung der Opfer in Zweifel zieht. Unfälle verursachen nicht nur körperliche Verletzungen, sondern auch seelische. Um wie viel schlimmere Nachwirkungen muss also eine so viel größere Katastrophe wie Fukushima nach sich ziehen?

Erschwerend kommt hinzu, dass es sich dabei um eine dreifache Katastrophe handelte: zunächst das Erdbeben, mit einer Magnitude von 9,1 eines der stärksten in der Menschheitsgeschichte, in der Folge mehrere Tsunamiwellen, die hunderte Quadratkilometer Küste verwüsteten, und schließlich die Kernschmelzen in den Unglücksreaktoren von Fukushima. Die japanische Gesellschaft ist die ersten beiden Katastrophen mehr oder weniger gewöhnt. In Japan bebt die Erde häufig, entsprechend sind die Menschen innerlich darauf vorbereitet. Auch Tsunamis sind seit Beginn der Zivilisation bekannt. Die Bevölkerung kennt die Warnzeichen und ist geistig gewappnet – auch wenn das Ereignis am 11. März 2011 ein extremes war. Aber keine Zivilgesellschaft der Erde ist auf eine Nuklearkatastrophe vorbereitet, die auch – anders als Erdbeben und Tsunami – nach Abklingen der akuten Katastrophe nicht vorbei ist.

Das Wegräumen der Trümmer und der anschließende Wiederaufbau der Region wird über Jahrzehnte gehemmt durch die unsichtbare Gefahr der radioaktiven Verseuchung, die eine tiefsitzende, durchaus rationale Angst vor Strahlung hervorruft, die allerdings auch in eine sogenannte „Radiophobie“, eine Angststörung umkippen kann. Dr. Claußen berichtet mitfühlend, wie die Japaner mit dieser Angst versuchen umzugehen, u. A. durch Integration von Dosimetern oder Geigerzählern in ihren Alltag.
Die Ärztin berichtete auch von den Versuchen der japanischen Regierung, den Ängsten in der Bevölkerung durch eine positivistische Kommunikation zu begegnen. So wird etwa in offiziellen Stellungnahmen der Begriff „Kernschmelze“ tunlichst vermieden. Dies führte zu einem gravierenden Vertrauensverlust, der sich in ungewohnt heftigen Demonstrationen entlud. Obwohl es Entschädigungszahlungen gab, fühlten sich die Menschen von ihrer Regierung weitgehend im Stich gelassen, was sich auch in der Unfähigkeit vieler Regierungsmitglieder zeigte, die Opfer der Nuklearkatastrophe direkt anzusprechen.
In der Folge bildeten sich daher viele Selbsthilfegruppen, die japanische Bevölkerung „heilt“ sich quasi nach und nach selbst. Dr. Claußen beklagte außerdem den Mangel an fachübergreifenden Studien und Untersuchungen. So ist es schwierig, Zusammenhänge zwischen der psychosozialen Lage der Bevölkerung und ihrem Gesundheitszustand herzustellen, da es z.B. 21 Studien zu psychischen und 15 Studien zu den sozialen Auswirkungen der Katastrophe gibt, jedoch keine über Leukämie.

Doch die soweit bekannten Daten sprechen eine deutliche Sprache: Unter den ca. 400.000 Vertriebenen aus den verstrahlten Gebieten ist eine deutliche Erhöhung von Selbstmorden, Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung und Alkoholismus festzustellen. Besonders tragisch sind die Fälle von Schulmobbing im Zusammenhang mit Kindern von Fukushima-Evakuierten. Diese werden von ihren Mitschülern nicht selten wie Parias (Ausgestoßene) behandelt. Ein Phänomen, das bereits bei den Opfern von Hiroshima und Nagasaki auftrat. Die Menschen aus den Evakuationsgebieten sind auch gesellschaftlich deutlich isolierter, oft haben sie es schwer, Ehepartner zu finden.

Der Versuch der Regierung, mit ihrer mantrahaft wiederholten Botschaft „alles ist gut, die Gefahr ist vorüber“ die Situation zu entschärfen, schlug ins Gegenteil um: Sie verschlimmerte die psychische Belastung in der Bevölkerung, da allzu deutlich die kommunizierte Realität von der wirklichen, erlebten Realität abwich. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass der Name Fukushima weltweit in einem Atemzug mit Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl genannt wird. Dieses Stigma wird lange wirken (für das Land, aber auch für die Menschen vor Ort).

Zusammengestellt von Renate Brandner-Weiß und Philipp Kronbichler

Quellen:

- Psychosocial effects of the nuclear catastrophe Vortrag von Dr. Med. Angelika Claußen, gehalten am 27. Februar 2021 beim IPPNW-Symposium „10 years living with Fukushima“
- IPPNW: https://www.fukushima-disaster.de/deutsche-information.html Deutsche Information | Fukushima Desaster (fukushima-disaster.de)
- Vortrag online (Youtube,Englisch, 27 Minuten): (9) Psychosocial effects of the nuclear catastrophe, Dr. Angelika Claußen


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