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Vergiftungsgefahr für Millionen Menschen durch Ausbaggern für E40-Wasserstraße

14.9.2020

Bildquelle Karte: https://europe.wetlands.org/wp-content/uploads/sites/3/2020/03/2020-03-13-E40-route_Guardian.jpg

Der E40-Wasserweg möchte den Frachtverkehr per Schiff zwischen Ostsee und dem schwarzen Meer wieder reaktivieren. Um heutigen Transportschiffen eine angemessene Wasserstraße zu bieten sind umfangreiche Ausbaggerungen, wie auch mehrere Dammkonstruktionen, besonders im Bereich des im Grenzgebiet zwischen Belarus und der Ukraine wild fließenden Pripyats notwendig. Die ersten Baggerarbeiten in der verstrahlten Evakuierungszone von Tschernobyl begannen im August 2020, entgegen nationalem wie internationalem Recht. Obwohl der Pripyat eines der größten wilden europäischen Sumpfgebiete bewässert, wurde noch nicht einmal eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt. Dass eine umfassende und transparente Aufklärung der Bevölkerung nicht stattfand, verwundert da schon fast nicht mehr...

Die Jahrzehnte, die seit der Katastrophe in Tschernobyl 1986 vergangen sind, machen gerne glauben, die Katastrophe sei schon vorbei.
Aber das ist das zugleich Tragische und Tückische an Nuklearkatastrophen: Sie haben einen akuten Katastrophenpeak am Anfang, der sich mit abnehmender Strahlung danach zwar abflacht, aber sehr lange braucht, bis die Katastrophe wirklich als beendet gelten kann. Denn die Halbwertszeiten mancher Radioisotope sind lang, und selbst wenn die Hälfte des Cäsiums 137, das damals in die Luft gelangte, mittlerweile zerfallen ist, so sind das immer noch ca. 13 Kilogramm eines mäßig starken Betastrahlers, der in den Böden und Sedimenten Europas nach wie vor aktiv ist, und sich weiterhin in Pilzen und Wildtieren konzentriert.

Dennoch ist die Gefahrenwahrnehmung von Tschernobyl spürbar geringer geworden. Der Reaktorblock 4 ist mittlerweile fast mehr ein kulturelles Symbol geworden als eine tatsächlich als solche wahrgenommene Gefahr. Zu erkennen ist das auch an der Berichterstattung über den geplanten E40-Wasserweg, der in unmittelbarer Nähe am Katastrophenreaktor vorbeiführen soll.

Aus diesem Grunde beauftragte die Initiative "Save Polesia" die unabhängige Organisation ACRO (Association pour le Contrôle de la Radioactivité dans l'Quest) mit einer Untersuchung über die Strahlungsrisiken, die das E40-Projekt mit sich bringen würde. Diese Studie ist  auf Englisch frei im Internet verfügbar und zwar unter dem Namen Chernobyl heritage and the E40 trans-Europe waterway

Die Autoren kommen darin zum Schluss, dass die Gefahr nicht alleine von den einmaligen Grabungsarbeiten für die Vertiefung des Pripyat herrührt, sondern auch von den geplanten jährlichen Instandhaltungsmaßnahmen, die unter anderem ein Volumen von ca. 1,2 Millionen Kubikmetern an bewegten Sedimenten umfassen. In diesen Sedimenten sind all die radioaktiven Elemente gelandet, die vom Reaktorbrand 1986 in die Luft geschleudert worden waren, vom Regen ausgewaschen wurden und nun die Böden kontaminieren. Eine grafische Darstellung dazu ist online zu finden unter: 

 https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Tchernobyl_radiation_1996-de.svg

 

Nicht umsonst ist das Gebiet in einem Radius von 37 km rings um Tschernobyl nach wie vor Sperrgebiet. Die Studie betont, in welch krassem Widerspruch diese Baggerarbeiten zur dringenden Empfehlung der internationalen Atomenergiebehörde IAEA steht, die kontaminierten Flusssedimente im Pripyat, aber auch im Kiew-Reservoir oberhalb der gleichnamigen Hauptstadt der Ukraine möglichst unberührt zu lassen und nicht aufzuwühlen.

Die IAEA schätzt, dass in den vorhandenen Flusssedimenten als größte Gefahr für die Bevölkerung nach wie vor ca. 6 kg Cäsium-137 und etwa ein halbes Kilo Strontium-90 stecken. Besonders Cäsium neigt dazu, sich mit dem Lehm der Flußsedimente zu verbinden und dort zu verweilen, während Strontium wesentlich mobiler ist. Beides sind hochgiftige, krebserregende Stoffe.

 

Die ACRO-Studie benennt mehrere Gefährdungsherde für die Bevölkerung:

·        Dem größten Risiko sind die Arbeiter der Ausbaggerungsmaßnahmen und der notwendigen
          Dammkonstruktionen selbst ausgesetzt, da sie direkt mit den kontaminierten Sedimenten in Kontakt
         kommen.

·        Der Bevölkerung in Belarus und der Ukraine drohen Vergiftungen auf folgendem Wege:

            ◦    Trinken von kontaminiertem Wasser.

            ◦    Konsum von kontaminiertem Fisch.

            ◦    Konsum von mit kontaminiertem Wasser bewässerten Pflanzen.

 

Im Übrigen drohen diese Gefahren nicht nur der ukrainischen Bevölkerung, sondern auch der flussaufwärts von Tschernobyl in Belarus, allerdings in geringerem Ausmaß. Insgesamt schätzen die ACRO-Autoren ca. 28 Millionen Menschen durch die Arbeiten am E40-Projekt als potentiell von erhöhter Radioaktivität betroffen ein.

Die tatsächliche Strahlenbelastung der Bauarbeiter würde schätzungsweise bis zu 15 Millisievert pro Jahr betragen (mSv/Jahr), in Einzelfällen auch höher - und das nicht nur einmal, sondern auch bei den jährlich anfallenden notwendigen Ausbaggerungen.

Die höchste Jahresdosis für einen Normalbürger beträgt in Europa 1 Millisievert. In der EU dürfen Arbeiter in strahlungsgefährdeten Bereichen eine Jahresdosis von 20 mSv nicht überschreiten.

Neben den Bauarbeitern, die direkt in der Tschernobyl-Evakuierungszone am Projekt beteiligt sind, schätzt die Studie Fischer als am stärksten betroffen ein. Nicht nur arbeiten sie am und im Wasser, hantieren täglich mit Fisch, sondern konsumieren auch am meisten Fisch. Ihre jährliche Dosis wäre mit durchschnittlich ca. 200 Mikrosievert pro Jahr (μSv/Jahr) deutlich geringer als die der Bauarbeiter, kann aber auch größer ausfallen. Bauern könnten eine durchschnittliche Dosis von ca. 30 μSv/Jahr abbekommen.

In ihrer Zusammenfassung warnt die ACRO außerdem vor dem immer noch nicht fertig dekontaminierten und nach wie vor schwer verseuchten Kühlbecken flussabwärts von Tschernobyl. Dort und in den dortigen Sedimenten finden sich nach wie vor die höchsten Konzentrationen von radioaktiven Stoffen. Die Bauarbeiten stellen unter Umständen eine Gefahr für die Stabilität des Dammes dar, der das Kühlbecken vom Pripyat trennt. Ein Dammbruch wäre eine verheerende Katastrophe für die ukrainische Bevölkerung und die Millionenstadt Kiew.

Ganz klar ist die Empfehlung der ACRO für den Ausbau des Eisenbahnnetzes, denn das E40-Wasserstraßenprojekt ist in seiner derzeitigen Form weder rechtens noch praktikabel. Die unzumutbaren und praktisch nicht kommunizierten Gefahren, die sowohl der Bevölkerung als auch den Bauarbeitern drohen, stellen einen unethischen Bruch sowohl von nationalem als auch internationalem Recht dar.

 

Zusammengestellt von Philipp Kronbichler und Renate Brandner-Weiß

 

Quellen:

·        https://savepolesia.org/wp-content/uploads/2020/04/ACRO_E40-waterway_Chernobyl-heritage.pdf

·        https://europe.wetlands.org/news/hazardous-dredging-in-chernobyl-exclusion-zone/

·        https://europe.wetlands.org/news/european-rivers-matter/

·        https://wwf.panda.org/?740511%2FE40-Chernobyl

·        https://www.oekonews.at/?mdoc_id=1161600

·        https://www.presseportal.de/pm/118721/4578865

·        https://de.wikipedia.org/wiki/Dnepr-Bug-Kanal

·        https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Tschernobyl

·        https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Tschernobyl

·        https://en.wikipedia.org/wiki/Chernobyl_Nuclear_Power_Plant

·        https://www.remm.nlm.gov/dose_animations.htm

·        https://savepolesia.org/dredging-of-the-pripyat-river-started-within-the-chernobyl-exclusion-zone/




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